Die abwesende Mutter

26 Juni 2019

Markus Thiele

Die abwesende Mutter

Das Verhältnis zur Mutter ist ein komplexes, das entweder durch aktives Beziehungsgeschehen prägend oder durch passives Beziehungserleben grundlegende Überzeugungen an das Kind vermittelt. Sicher ist, dass man diesem Verhältnis und seinen Ausprägungen nicht entkommen kann. Und dass an dem Satz: „Ich bin immer noch deine Mutter“ nicht nur in den 1960ern etwas dran gewesen ist.

Eine der Grundbestimmungen im Mutter-Kind-Verhältnis ist, mit dem Komplex der Abhängigkeit gewissermaßen zu dealen. Diese dehnt sich aus von der Mutterbrust über emotionale Anpassung (und dadurch Verdrängung eigener Gefühle) bis hin zur Umkehrung von Abhängigkeiten, wenn die Mutter etwa selbst zum Pflegefall wird.

Im Fall einer psychisch abwesenden Mutter durch Depression entwickelt sich beim betroffenen Kind eine sogenannte „weiße Depression“: „… eine abwesende Brust also, absorbiert von der Sehnsucht nach einer traurig vermißten Beziehung. Eine Brust, die nicht erfüllt ist und nicht erfüllen kann, was zur Folge hat, daß die Wiederbesetzung der glücklichen Beziehung zur Brust, wie sie es vor Erscheinen des Komplexes der toten Mutter war, nunmehr vom Zeichen der Vergänglichkeit und der drohenden Katastrophe befallen ist.“

Die Mutter wird in diesem Fall zu einer Art Pflegefall, auch wenn physisch keine Einschränkungen sichtbar sind. In diesem Abhängigkeitsverhältnis verkehrt sich die Fürsorge der Mutter in die Sorge des Kindes um seine Mutter: „Hinter der manifesten Situation steht ein umgekehrtes Vampir-Phantasma. Der Patient verbringt sein Leben damit, seinen Toten zu versorgen, gerade als sei einzig und allein er dafür zuständig.“

Kaum ist der Psychotherapeut an den Kern herangetreten, der sich hinter dem Versuch verbirgt, die eigentliche Verzweiflung durch Gefallen zu täuschen, empfindet der Analysand meist eine große Leere.

Im Therapieverlauf tritt im Fall einer „weißen Depression“ eine Besonderheit in der Übertragung auf: Die Psychoanalyse induziert Leere… Die Analyse (mehr noch als der Analytiker) wird als Übertragungsraum intensiv genutzt.

Kaum ist der Psychotherapeut an den Kern herangetreten, der sich hinter dem Versuch verbirgt, die eigentliche Verzweiflung durch Gefallen zu täuschen, empfindet der Analysand meist eine große Leere. Diese zu verstehen bedeutet, die Analogie in der Übertragung zwischen Analytiker und Analysand ebenfalls im Kern zu betrachten: Trotz ständiger Abwesenheit in Anwesenheit bleibt die Mutter Objekt starken Begehrens für das Kind: „Die gesamte Struktur des Subjekts zielt auf ein grundlegendes Phantasma: Die tote Mutter zu nähren, um sie sich in einer lebenslangen Einbalsamierung zu erhalten.“

Im Analyseprozess ist dies ebenso die Art und Weise, mit der der Patient den Analysefortlauf gewährleisten will. „Er nährt ihn mit der Analyse, nicht, um sich selber zu helfen, einmal außerhalb der Analyse leben zu können, sondern um sie in einen unendlichen Prozeß zu verlängern.“

Das Erleben, dass die Mutter nicht ersetzbar ist, bringt die eigentliche Verzweiflung hervor. Der Philosoph Søren Kierkegaard würde diesen Zustand der Verzweiflung insofern als erkenntnisreich beschreiben, als dass Verzweiflung für ihn ein Zustand wesentlicher Selbst-Erkenntnis ist.

Dadurch ergeben sich für den Analytiker zwei potentielle Haltungen:

1. Abstinenz
2. Der Analytiker bietet sich als „lebendiges Objekt“ an

Denn in der Abstinenz und dem Schweigen kann es zu einer Retraumatisierung des Analysanden kommen, denn genau dieses Schweigen, im Versuch Interessen, Liebe und Aufmerksamkeit zu erheischen, ist das, was tragischerweise für den Patienten zur Gewohnheit wurde. Im zweiten Fall hätte der Analysand das Erleben und das Interesse des Analytikers – trotz eingehaltener Neutralität und Abstinenz – gewonnen. Und so auch letztendlich einen Teil seines Selbst, das sich in den Bemühungen um die Mutter nahezu aufgeopfert und verloren hatte, wiedergewonnen.