Du Narzisst!

26 Februar 2024

Till Jansen

Du Narzisst!

Nur wenige Diagnosen sind so populär und verbreitet wie die des Narzissmus. Im Alltag ist diese Diagnose in den verschiedensten Kontexten anzutreffen. Dem Partner wird im Streit Narzissmus vorgeworfen, das eitle Verhalten einer Bekannten als Narzissmus kommentiert, und der Chef ist sowieso ein Narzisst. Wenn das noch nicht reicht, ist gleich die ganze Gesellschaft narzisstisch (Maaz, 2012). Narzissmus – der Begriff bzw. das Label ist ubiquitär. 

Dabei hat wohl keine Diagnose eine so abwertende Bedeutung erlangt. Spricht man von dem depressiven Freund noch mit Mitleid (was häufig auch nicht wirklich nett ist), so läuft das Label des Narzissmus im Volksmund häufig auf einen schlechten Charakter hinaus. Narzissten sind eitle, egozentrische Menschen, die sich nur um sich selbst und nicht um andere scheren, die nur sich selbst im Sinn haben. Narzissten lassen andere leiden, sie leiden jedoch selbst nicht. Narzissmus ist synonym mit “selbstsüchtiges A****loch”. Oder schlimmer noch: Narzissten sind die Vorstufe zum axtschwingenden Psychopathen. 

Nichts könnte falscher sein. Denn das, was als narzisstisches Verhalten gilt, ist zunächst Ausdruck tiefen Leids. Narzissten verhalten sich, wie sie sich verhalten, gerade weil ihnen Selbstbewusstsein und Selbstfürsorge fehlen. Sie machen häufig in der Kindheit Erfahrungen, die dazu führen, dass es ihnen an Selbstkontakt und Orientierung mangelt. Häufig wachsen sie mit Eltern auf, die aus dem Kind ein Projekt machen und nicht auf die Bedürfnisse des Kindes achten, sondern ihre eigenen Wünsche auf das Kind projizieren. In der Folge orientiert sich das Kind an externen Vorgaben. Es macht, was die Eltern erwarten, weil es lernt, dass die eigenen Erwartungen nicht zählen. 

So entsteht eine innere Leere, die auch im Erwachsenenalter nicht verschwindet. Die Betroffenen versuchen diese Leere zu füllen, indem sie die Besten, Schnellsten, Klügsten werden und/oder an diesem Anspruch scheitern. Sie versuchen, sich an den Erwartungen der Gesellschaft zu orientieren – oder an dem, was sie dafür halten. Narzissmus, das bedeutet zunächst einmal tiefste Verlassenheit und Einsamkeit – und den daraus folgenden Wunsch, den Erwartungen der Anderen zu entsprechen, um Anerkennung zu erlangen. Klaus Eidenschink (2023) schlägt daher vor, den stigmatisierenden Begriff zu umgehen. „Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten.“ Mit diesen Nöten wiederum kann sowohl das Leid der primär Betroffenen (der Narzissten, die keine sind) wie auch der sekundär Betroffenen (derjenigen, die über Narzissten klagen oder klagen könnten) gemeint sein. Narzisstische Nöte können geteilt werden. Es kann etwa Paare in narzisstischen Nöten geben, die nach außen als power couple erscheinen. Es kann Unternehmen in narzisstischen Nöten geben. Es kann sogar narzisstisch leidende Gesellschaften geben. Gemein haben sie alle die innere Leere und die Orientierung an starken Führern in Gestalt von Unternehmern, Patriarchen oder politischen Führern. Gemeinsam ist ihnen auch der Mangel an Selbstkontakt und die Bereitschaft, sich selbst und anderen Leid zuzufügen. Sie teilen den Drang danach, besser, schneller, schlauer, stärker zu sein – selbst wenn sie an diesem Wunsch verzweifeln.

Sind wir weniger stigmatisierend, sind wir mitfühlender, wenn wir von narzisstischen Nöten sprechen?

„Es gibt keine Narzissten!“ Doch löst dieses Sprachspiel das Problem, das mit dem Begriff des Narzissmus in die Welt getreten ist? Sind wir weniger stigmatisierend, sind wir mitfühlender, wenn wir von narzisstischen Nöten sprechen?

Zu einem gewissen Teil kann dies wohl bejaht werden. Doch letztlich kommen wir auch in dieser Lösung nicht darum herum, jemanden oder etwas (eine Unternehmenskultur, eine Partnerschaft) als narzisstisch zu bezeichnen, nämlich dann, wenn wir uns davon abgrenzen möchten. Die Wortwahl ist dann zweitrangig. Ob wir nun sagen, dass der Chef sich in narzisstischen Nöten befindet oder dass er ein Narzisst ist – der Unterschied ist kaum vorhanden und geht in der Struktur unserer Kognition verloren. Label bleibt Label. Klaus Eidenschinks Vorschlag lotet die Grenzen des Machbaren aus, letztlich reproduziert er das Problem jedoch. 

Vielleicht auch deswegen wird im neuen Diagnosemanual ICD 11 vollständig auf essenzialisierende Beschreibungen verzichtet. Narzissten, histrionische und schizoide Persönlichkeiten gibt es dann nicht mehr. Stattdessen wird auf ein Skalenmodell gesetzt. Man ist dann mehr oder weniger zwanghaft, enthemmt oder dissozial. – Ob das die Sache besser macht, sei dahingestellt. 

Dieses Problem beginnt dort, wo wir auf Menschen in einer Art Bezug nehmen, die Persönlichkeitseigenschaften festsetzt, ein Verhalten also nur noch auf konstante Eigenschaften der Person, nicht auf Situation oder Affekt zurechnet. Kaum etwas ist invariabler als eine Persönlichkeitseigenschaft. Wir vergessen, dass Diagnosen auf Menschen als Beschreibungen zurückwirken, und blenden den Kontext aus – etwa die Familie –, in dem Symptomverhalten entsteht und aufrechterhalten wird. 



Vielleicht ist es besser, wenn wir ganz darauf verzichten und uns stattdessen auf Verhalten beziehen. Denn Verhalten kann ist variabler. Wir können anders handeln, etwa wertschätzender, offener und geduldiger, ohne dass wir gleich unsere ganze Persönlichkeit ändern müssen. Wir können über Probleme sprechen, ohne dass wir mit dem Finger auf den Menschen zeigen. Wenn wir sagen: „Ich wünsche mir, dass du mir häufiger zeigst, dass du mich wertschätzt“, ist die Wahrscheinlichkeit des Wandels bedeutend höher, als wenn wir sagen: „Du Narzisst!“ Über veränderbares, konkretes Verhalten und seine Auswirkungen zu sprechen, ist weniger abwertend, artikuliert die eigene Perspektive und nimmt Rücksicht auf die Bedürfnisse des Anderen. Es ist weniger radikal, weniger fundamental, weniger verdammend. Es ist, wenn man so möchte, etwas weniger narzisstisch – und öffnet so den Weg in eine Welt, in der das Konzept selbst vielleicht nicht mehr nötig ist. 

Inwieweit diese Welt erreichbar ist, bleibt dahingestellt. So kann es immer wieder Situationen geben, in denen es Sinn ergibt, über Persönlichkeitsstörungen und damit über Narzissmus zu sprechen. Dann jedoch würde ich beim psychoanalytischen und ich-psychologischen Diskurs bleiben. Wenn man schon über Persönlichkeitsstörungen spricht, bietet es sich an, bei Theorien zu bleiben, die sich tatsächlich mit Persönlichkeitsentwicklung auseinandersetzen, und deren Konzepte ernst zu nehmen. Denn „Narzissmus“ ist auch bei Freud und den ihm nachfolgenden Theoretikern wie Ferenczi, Klein, Kohut und Kernberg keineswegs stigmatisierend gemeint (Kernberg & Hartmann, 2006). Vielmehr ist Narzissmus Teil der menschlichen Entwicklung und nur in pathologischen Formen im Erwachsenenalter problematisch: in Form der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Narzisstische Persönlichkeitsstörung ist nur eine Diagnose. Der Volksmund hat aus ihr „du Narzisst“ gemacht. Das Problem ist somit weniger der Begriff als vielmehr der Umstand, dass er im Alltagsgebrauch eine neue Bedeutung bekommt. Das Problem liegt im Kontext, darin, wie eine Theorie im Volksmund rezipiert wird. Darüber jedoch entscheidet nicht der Theoretiker, sondern der Volksmund, dem sogar Eidenschink selbst aufsitzt, indem er sich auf den Begriff „Narzissmus“ einlässt, anstatt von „narzisstischen Persönlichkeitsstörungen“ zu sprechen. So versucht er vielleicht ein Problem zu lösen, das gar nicht zu lösen ist, nämlich die Kontrolle über die populäre Rezeption eines wissenschaftlichen Begriffs zu behalten.