Soziale Isolation

26 November 2020

Markus Thiele

Soziale Isolation

Die Polemik von Max Czollek’s „Desintegriert euch!“ liefert im Titel eine gute Vorlage für “das Buch unserer Zeit“. Psychologen würden wahrscheinlich lieber mit dem Aufruf: „Deisoliert euch!“ auf dem Titel in der Auslage des Buchhändlers liegen, weil die psychischen Folgen von Isolation entgegen den medizinischen Vorteilen als Reaktion auf eine Pandemie schwerwiegend sein können. Das Buch unserer Zeit, in der die Eindämmung des Infektionsgeschehens mit SARS CoV-2 weltweit zur Priorität erklärt ist, heißt jedoch dementsprechend: „Isoliert euch!“

In der Literatur wird das Phänomen unfreiwilliger Isolation auch als „Robinsonade“ (zurückzuführen auf die Figur des Robinson Crusoe) bezeichnet im Gegensatz zur Idylle des Alleinseins. Im medizinischen Sinne ist Isolation eine Maßnahme zur Verhütung von Infektionen. Im psychologischen Sinne bedeutet Isolation einen Mangel am Ausleben von Sozialität. Selten sind die Auswirkungen auf Körper und Psyche in einer Angelegenheit so diametral einander gegenübergestellt.

Isolation ist, trotz des Ausschlusses aus der Gesellschaft, ein gesellschaftsimmanentes Phänomen. Derzeit ist man mit der völlig neuen Erfahrung konfrontiert, dass eine ganze Gesellschaft dazu aufgefordert ist, sich ins Private zurückzuziehen. Isolation ist sozusagen ein Anti-Beziehungsphänomen. Was als Maßnahme zur Eindämmung von übertragbaren Viren gilt, kann auf psychischer Ebene als quasi moderne Variante von Folter eingesetzt und bleibende körperliche und psychische Schäden hinterlassen wie etwa Gehirnschäden und Traumata.

Man könnte sogar die Behauptung vertreten, dass kein Gefühl tiefer in das Wesen des menschlichen Seins eingreift als das Gefühl der Vereinsamung.

Hildegard Kaulen schreibt in der FAZ: „Soziale Isolation lässt sich anhand von Kontakten messen. Einsamkeit ist dagegen das nagende, negative Gefühl, dass etwas fehlt, was man gerne hätte. Nicht jeder, der sozial isoliert ist, ist einsam, und nicht jeder, der sozial eingebunden ist, fühlt sich nicht einsam.“

Einsamkeit in der Isolation ist eine lautlose Implosionserfahrung. Ein dumpfes Empfinden eines Mangels durch den Stress schlechter abgebaut und kanalisiert werden kann. Und dazu kommt, die Skepsis und Vorbehalte innerhalb der Gesellschaft steigen. Dass ein jeder Infektor sein kann, schafft auch Distanz dort, wo menschliche Qualitäten wie Empathie, körperliche Zuwendung und Anerkennung des Anderen unbedingt benötigt und „übertragen“ werden sollten. Digitale Kommunikationsmittel sind zwar ein inzwischen scheinbar leicht zu habendes Mittel den Kontakt zu halten, jedoch werden körperliche Gesten und Feinheiten in den Äußerungen des Gegenübers durch diese imaginär und leisten dem Moment Vorschub, das Verständnis des anderen zu verfehlen: diese körperlose Kommunikation grenzt ans Verbrechen.

Diese Fremdheitserfahrung mit anderen wird zur existenziellen Obdachlosigkeit im eigenen Selbst, denn die Wechselseitigkeit der Beziehung ist in der Isolation eingedämmt. Nicht zuletzt für psychisch erkrankte Menschen ist die staatlich angeordnete Isolation wegen eines Mangels an Resilienz ein gravierendes Problem: „Man könnte sogar die Behauptung vertreten, dass kein Gefühl tiefer in das Wesen des menschlichen Seins eingreift als das Gefühl der Vereinsamung. Hierbei steht die Möglichkeit des Seins überhaupt auf dem Spiel“, sagt Wilhelm Bitter in „Es lebe die Einsamkeit“.

Die Isolation und digitale Kommunikation ist insofern eine körperlose Existenzerfahrung, die mehr als nur auf das Gemüt schlägt.

Möglicher Suizid: Zahl der Rettungseinsätze steigt massiv an – Berliner Zeitung vom 10.11.2020.