Über Möglichkeitssinn und Psychotherapie

26 September 2025

Markus Thiele

Über Möglichkeitssinn und Psychotherapie

„Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“, schreibt Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften fast wie eine programmatische Setzung. Der Möglichkeitssinn ist für ihn jene Fähigkeit, „alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.“ Dieser Satz könnte ebenso gut über der Tür eines psychoanalytischen Behandlungszimmers stehen. Inspiriert wurde Musil zu seinem Konzept des Möglichkeitssinns durch Adlers „goldene Regel der Individualpsychologie“: Der Psychoanalytiker Alfred Adler wollte den Menschen so sehen, „als ob nichts in seinem Leben kausal bedingt wäre und jede Erscheinung in seinem Leben auch hätte anders sein können.“ Eine Haltung, die nichts von einem naivem Optimismus hat, sondern eine radikale Geste darstellt: die Absage an einen psychischen Determinismus.

Der Möglichkeitssinn, so beschreibt Robert Musil ihn dann im Mann ohne Eigenschaften, ist jene seltene Fähigkeit, die Welt nicht bloß so zu nehmen, wie sie sich darbietet, sondern sie in einem „Als-ob“ neu zu denken. Er ist das Gegengewicht zum Wirklichkeitssinn, der sich an Fakten, Nachweisen, Daten festhält. Doch der Möglichkeitssinn dient nicht der Flucht ins bloße Tagträumen. Er ist ein ernsthafter Denkmodus, ein innerer Spielraum, in dem die Realität nicht verleugnet, sondern verschoben, geöffnet und neu kombiniert wird. Er macht das Leben beweglich und lebendig

Die Psychoanalyse lebt genau von dieser Haltung: Sie nimmt das Gegebene nicht als unverrückbar hin, sondern macht es denkbar, befragbar, verschiebbar. Freud selbst beschrieb sein Unterfangen als Arbeit an der Freiheit des Subjekts: „Wo Es war, soll Ich werden.“ – ein Satz, der das dynamische Moment der Analyse betont. Das Unbewusste wird aber nicht ausgegraben, um das Subjekt zu demaskieren, sondern um ihm neue Lesarten seiner eigenen Biografie, die man entschlüsseln kann, zu eröffnen. Das führt auch zu Umwegen, die dann neue Wege und Perspektiven eröffnen können. Oder anders gesagt: Das Unbewusste wird in die Sprache gehoben, damit es disponibel, verhandelbar wird. Symptome verlieren so ihren Charakter als starrer Zwang und werden zu Spuren, die gedeutet werden können.

Fallvignetten als Möglichkeitsräume

Aus einer Fallgeschichte: Eine Patientin, die in jeder Partnerschaft plötzlich den Impuls verspürte, kurz vor der Eheschließung zu fliehen, erlebte dies zunächst als „Charakterfehler“. Im Laufe der Behandlung entdeckte sie, dass diese Panik das Echo einer frühen Erfahrung war, sich von den symbiotischen Erwartungen der Mutter erdrückt zu fühlen. In dieser Schlüsselsitzung, in der sie ihre frühe Erfahrung der symbiotischen Vereinnahmung durch die Mutter erkannte, spürte ich selbst ein Aufatmen und Erleichterung. Die Patientin konnte jetzt prüfen, ob ihr Rückzug wirklich nötig oder nur eine Wiederholung war. Hier öffnete sich der Möglichkeitsraum, den Musil beschreibt. Ihre Geschichte war nicht mehr zwangsläufig, sie konnte anders gedacht werden.

Ein weitere Fallvignette: Einer meiner Patienten, der sich als „gescheitert“ empfand, weil er sein Studium abgebrochen hatte, lebte in der quälenden Gewissheit, dass dieser Abbruch seine gesamte Identität negativ bestimmen würde. Im Zuge der längeren Therapie wurde deutlich, dass dieser Abbruch damals eine Form der Selbstrettung war – ein Schutz vor dem erdrückenden Erwartungsdruck der Eltern. Als er dies begreift, kann er seine Geschichte umdeuten: Der Abbruch war nicht nur ein Scheitern, sondern auch ein Widerstand. Daraufhin stellte er sich die Frage, welcher neue Lebensentwurf aus diesem quasi subversiven Akt erwachsen könnte: aus der Not wurde eine Option.

In einer Sitzung malte eine meiner Patientinnen, die sonst kühl und kontrolliert war, plötzlich eine kleine Skizze auf ihr Notizpapier und begann zu lachen.

Eine andere Klientin litt unter regelmäßigen Migräneattacken, die vor allem dann auftraten, wenn sie „Nein“ hätte sagen wollen, es aber nicht konnte. Anstatt die Migräne nur als neurologische Störung zu sehen, konnte sie mehr und mehr als „Sprache des Körpers“ verstanden werden: ein unbewusster Protest, der an die Stelle des verbalen „Nein“ trat. Als sie begann, dieses „Nein“ auch auszusprechen, nahm die Häufigkeit der Anfälle deutlich ab. Somit wurde die „Realität“ des Symptoms nicht mehr geleugnet, es wurde in einen Möglichkeitsraum transformiert, der neue abgrenzende Handlungen zuließ.

Donald Winnicott hat diesen Raum präzise gefasst, als er den „Übergangsraum“ beschrieb – jenen psychischen Ort, an dem Spiel und Kreativität möglich werden. Das Spiel, so Winnicott, ist eine ernsthafte Arbeit am Selbst. In der analytischen Sitzung wird dieser Übergangsraum neu geschaffen. Manchmal geschieht dies unmerklich: In einer Sitzung malte eine meiner Patientinnen, die sonst kühl und kontrolliert war, plötzlich eine kleine Skizze auf ihr Notizpapier und begann zu lachen. In diesem Moment trat eine spielerische Dimension auf, die sie später als „ersten warmen Moment seit Monaten“ beschrieb. Diese Stunde wurde zum Ausgangspunkt, an dem sie sich eine andere Weise des Fühlens erlauben durfte.

Wilfred Bion hat diesen Prozess der Transformation als „Containment“ beschrieben: Der Psychoanalytiker nimmt die unbearbeiteten Affekte des Patienten auf, hält sie in sich aus und gibt sie in symbolisierbarer Form zurück. So werden chaotische, erschreckende Emotionen in denkbare Erfahrungen verwandelt. Einer meiner Klienten, der nach einem plötzlichen Jobverlust wochenlang in lähmender Wut verharrte, hörte mich sagen: „Es klingt, als wäre da nicht nur Wut, sondern auch eine enorme Traurigkeit, dass man Sie nicht gesehen hat in dem, was Sie geleistet haben.“ Dieser Satz machte es möglich, dass der Klient zum ersten Mal weinte und anschließend von Zukunftsplänen sprechen konnte. Zu einem anderen Patienten, der nach dem Tod seines Vaters in Wutanfällen tobte, sagte ich: „Es hört sich so an, als ob Sie gar nicht nur wütend sind, sondern als wäre da eine Trauer, die Sie kaum ertragen.“ Diese Feststellung brachte den Patienten zum Weinen. Danach konnte er sagen: „Ich bin traurig, dass er nie gesagt hat, dass er stolz auf mich war.“ Die Wut hatte sich in Trauer verwandelt und mit ihr öffnete sich die Tür einen Spalt für eine neue Beziehung zu seinem eigenen Leben.

Jacques Lacan schließlich gibt diesem Prozess eine radikalere Note: Er erinnert uns daran, dass das Subjekt durch Sprache konstituiert ist und immer von einem manque-à-être“– einem Mangel am Sein – angetrieben wird. Dieser Mangel ist kein Fehler, sondern Motor: Er erzeugt Begehren, das über das Gegebene hinausweist. In der Analyse wird dieses Begehren nicht beruhigt, sondern hörbar gemacht. Ein Patient, der ständig nach „perfekten Lösungen“ suchte, konnte in einer meiner Stunde den Satz sagen: „Vielleicht geht es gar nicht um Perfektion, sondern darum, etwas zu begehren, das größer ist als ich.“ Endlich konnte und durfte er seinen narzisstischen Anspruch einmal aussprechen und wurde dafür von mir nicht verurteilt. Dieses Aussprechen war kein Ende, sondern die Wendung in der Analyse. Eine weitere Fallgeschichte: Ein erfolgreicher Manager, der sich immer noch von seinem Vater getrieben fühlte sprach immer von Zielen und Erfolgen, nie von Wünschen. Ich bemerkte in mir eine leise Langeweile – eine Gegenübertragungsreaktion, die mir anzeigte, wie abgetötet das emotionale Feld war. Der Wendepunkt der Analyse (turning point) kam, als er in einer Sitzung endlich sagen konnte: „Ich weiß nicht, was ich will, ich will nur nicht versagen.“ Als er sich erlaubte, diesen Satz auszusprechen, ohne sofort eine Lösung zu fordern, entstand ein Moment von Stille. Danach sagte er: „Vielleicht will ich gar nicht mehr nur gewinnen, vielleicht will ich überhaupt erst einmal herausfinden, was ich wirklich will.“ Ich spürte daraufhin in mir eine Mischung aus Mitgefühl und einem leichten Drängen, ihm sofort Hoffnung zu geben. Doch ich hielt dieses Bedürfnis zurück und genau in dieser Lücke, in dieser produktiven Leere, gab es dann die Chance, dass etwas Neues entstehen konnte.



Psychoanalyse als Schule des Möglichkeitssinns

So teilen Musils Möglichkeitssinn, der kein romantischer Luxus, sondern das Fundament jeder psychischen Entwicklung ist, und die Psychoanalyse die anthropologische Grundüberzeugung, dass der Mensch nicht an das Gegebene gebunden ist, sondern seine Realität symbolisch und emotional neu entwerfen kann. Die analytische Arbeit ist in dieser Perspektive kein Heilverfahren, sondern eine lebendige Schule des Möglichkeitssinns. Diese Sichtweise lehrt aber auch, dass Veränderung kein abruptes Ankommen bedeutet, sondern ein fortschreitendes Hineinwachsen in eine größere Freiheit: die Freiheit aus den determinierten Mustern der eigenen Biografie aussteigen oder mindestens gelegentlich einmal davon Abstand nehmen zu können.