Bindung

26 Oktober 2017

Markus Thiele

Bindung

Einem emotional-körperlich distanzierten Mann wird seine Partnerin meistens früher oder später sagen, dass er sich entscheiden muss: für ein Zusammenleben, in dem er Nähe zulässt oder für ein Leben ohne sie. Nicht selten folgt später dann die Trennung. Umgedreht wird ein Mann seiner klammernden Frau versuchen klarzumachen, dass er auch Freiräume benötigt. Wenn sie daraufhin leidet, wird er sie möglicherweise wieder in den Arm nehmen, ohne dass sie danach unbedingt weniger klammert. 

Zum Verständnis solcher Schwierigkeiten kann die Bindungstheorie beitragen. Diese geht der Frage auf den Grund, welche kognitiven und vor allem emotionalen Folgen Bindungsschwierigkeiten in der frühen Kindheit haben. 

Bindung (englisch: attachment), ist dem englischen Psychoanalytiker John C. Bowlby (1907-1990) zufolge ein Primärtrieb, der als prägungsähnlicher Prozess verstanden wird und dessen Anpassungswert die Suche nach Schutz in der Nähe der Mutter ist. Die amerikanische Entwicklungspsychologin Mary S. Ainsworth (1913-1999) sieht in der Bindung ein Verhaltenssystem, das dafür zuständig ist, dass die Hauptpflegeperson beim Kind bleibt und ihm dadurch Schutz und Lernhilfe geben kann. Die Sicherheit, die die Anwesenheit der Bezugsperson vermittelt, ist die Voraussetzung für das Explorationsverhalten des Kindes. Das Bindungsverhalten äußert sich in verschiedenen Verhaltensweisen, zum Beispiel durch Weinen oder Hinterherlaufen, und wird gezeigt, wenn ein Mangel an Schutz oder Nähe erlebt wird. Somit regelt das Bindungsverhalten die Entfernung zwischen der Bindungsperson und dem Kind innerhalb von bestimmten Grenzen. Die Qualität der Bindung lässt sich nach Ainsworth bei Kindern anhand ihres Verhaltens bei der Wiedervereinigung nach einer Trennung beobachten und in drei Bindungstypen einteilen.

Bowlby hatte im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Ende des zweiten Weltkrieges erforscht, was mit den Kindern passierte, die ihre Eltern verloren hatten. Er kam zu dem Ergebnis, dass traumatische Trennungserfahrungen in der Kindheit psychische Störungen im Erwachsenenalter hervorrufen können. Das kleine Kind braucht die Mutter und oder den Vater, um mit Spannungen wie Angst oder Schmerzen umgehen zu können.

Emotionale Entwicklung und psychische Sicherheit sind nur durch Bindung möglich. Erzieherinnen können das nicht ausreichend leisten, daher ist die Unterbringung des Babys in eine Krippe nicht empfehlenswert, wenn es nicht unbedingt sein muss. Die Entwicklungspsychologen Klaus und Karin Grossmann kommen zu vergleichbaren ergebnissen: „Die Entwicklung von Bindungen an Erwachsene, die für das Kind da sind, die stärker und weiser sind, und die seine Bindungsbedürfnisse befriedigen, sind eine notwenige Voraussetzung für die Entwicklung psychischer Sicherheit. Ein bindungsloser Mensch ist ein psychisches Wrack und wegen seiner depressiven oder gewalttätigen Neigungen und Impulse eine Bedrohung für sich selbst und für andere.“

Frühkindlichen Erfahrungen entkommt niemand, sagt die Bindungstheorie, sie pflanzen sich fort wie biblische Prophezeiungen. In siebzig bis achtzig Prozent aller Fälle übertrage sich der einmal erworbene Bindungstyp auf den eigenen Nachwuchs.

Ainsworth benannte drei Bindungstypen, die sich je nach Feinfühligkeit der Mutter ergaben:

Da ist zunächst das “sicher gebundene” Kind, das mutig die neue Umgebung erobert, solange die Mutter im Raum ist. Die Trennung betrübt es, es weint häufig, umso freudiger wird die Rückkehr begrüßt. Im späteren Leben vertraut dieser in sich gefestigte Typ seinen eigenen Stärken – aus psychoanalytischer Sicht der Idealfall.

Der “unsicher-vermeidende” Typ bleibt distanziert, wenn die Mutter anwesend ist, er lässt sich bereitwillig von Fremden trösten und zeigt der Rückkehrerin die kalte Schulter.
Der “unsicher-ambivalente” Typ schwankt zwischen Trennungsangst und Wut, die sich gleichermaßen gegen die eigene wie die Bezugsperson richten. Beide Bindungstypen sind als Erwachsene nicht in der Lage, echte Gefühle zu zeigen, weil sie hin- und hergerissen sind zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der Furcht, dass dieses Verlangen nicht erwidert wird.

Die amerikanische Psychologin Mary Main beschrieb später noch die Desorganisierte und desorientierte Bindung, wie sie beispielsweise durch Missbrauch entstehen kann: Während unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebundene Kinder in ihrem Verhalten noch organisiert sind, sind die desorganisiert gebundenen Kinder völlig unvorhersehbar in ihrem Verhalten. Sie sind während der Trennung äußerst gestresst und wissen nicht, wie sie sich der Mutter wiederannähern sollen, wenn sie zurückkommt – mitunter zeigen sie Angst bei der Rückkehr und bizarre Verhaltensweisen.

Frühkindlichen Erfahrungen entkommt niemand, sagt die Bindungstheorie, sie pflanzen sich fort wie biblische Prophezeiungen. In siebzig bis achtzig Prozent aller Fälle übertrage sich der einmal erworbene Bindungstyp auf den eigenen Nachwuchs. Nur ein sicherer „Hafen“ in frühester Kindheit/Jugend garantiert demnach, dass sich ein Mensch zu einer stabilen Persönlichkeit entwickelt.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die Ergebnisse Spitz’, der herausgefunden hatte, dass Kinder in Heimen ohne emotionalen Zuspruch und trotz ausreichender körperlicher Versorgung in ihrer Entwicklung stark retardieren. Die Bindungstheorie hält das Eingehen von Bindungen für angeboren. Anzeichen eines angeborenen Bindungsverhaltens seien bei Kleinkindern das Weinen, Lächeln und das “Hinkrabbeln” zur Bezugsperson.

Wer als Kind von seinen Eltern Verständnis erhielt, kann später als Erwachsener auch anderen seine Gedanken und Gefühle mitteilen. Das trägt zur seelischen Gesundheit bei. Wer nicht mit Verständnis rechnen konnte, der wird misstrauisch gegenüber anderen sein beziehungsweise bleiben und auch für sich selbst wenig Verständnis haben. Doch auch als betroffener Erwachsener kann man noch neue, positive Beziehungserfahrungen machen, beispielsweise in einer Psychotherapie. 

In einer Therapie (vorzugsweise in einer psychoanalytisch ausgerichteten Psychotherapie) spielt die Beziehung zum Therapeuten eine zentrale Rolle. Die Klärung und Bearbeitung der sich entwickelnden Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Klienten kann entscheidend zu mehr Sicherheit und Wohlbefinden des Klienten beitragen.