Bindungsangst, auch als „Beziehungsangst“ oder „Angst vor Nähe“ bekannt, ist ein weit- verbreitetes Phänomen, das in der spätmodernen Gesellschaft zunehmend Beachtung findet. Aus psychoanalytischer Sicht, insbesondere aus der Perspektive der Objektbeziehungstheorie nach Kernberg, lässt sich Bindungsangst als eine tiefer liegende psychische Störung verstehen, die ihre Wurzeln oft in der frühen Kindheit hat. Die Psychoanalyse, die auf den Arbeiten von Sigmund Freud basiert, betont die Bedeutung der frühen Kindheit für die Entwicklung der Persönlichkeit und späterer psychischer Störungen. Laut Freud und seinen Nachfolgern bilden sich die grundlegenden Muster für spätere Beziehungen in den ersten drei Lebensjahren heraus.
Der österreichische Psychoanalytiker John Bowlby, der die Bindungstheorie entwickelte, argumentiert, dass die Qualität der frühen Bindungen, vor allem zu den primären Bezugspersonen, entscheidend für die spätere Fähigkeit sei, enge Beziehungen einzugehen. Bowlby identifiziert zwei unsichere Bindungsstile, die sich aus einer gestörten Interaktion zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen entwickeln: Unsicher-vermeidende Bindung entsteht, wenn Kinder erlebt haben, dass ihre emotionalen Bedürfnisse nicht zuverlässig erfüllt wurden. Sie neigen dazu, emotionale Nähe zu vermeiden und sich auf Autonomie zu konzentrieren, um mögliche Zurückweisungen zu vermeiden. Unsicher-ambivalente Bindung tritt auf, wenn Kinder inkonsistente Reaktionen ihrer Bezugspersonen erleben. Sie zeigen ein starkes Bedürfnis nach Nähe, gepaart mit Angst vor Zurückweisung, was zu widersprüchlichem Verhalten in Beziehungen führen kann.
Freud betont die Rolle unbewusster Konflikte und unbewusster Ängste vor Nähe, die aus frühkindlichen Erfahrungen resultieren können. Diese Ängste manifestieren sich später im Erwachsenenalter als Bindungsangst in Beziehungen. Menschen mit Bindungsangst neigen dazu, ihre Ängste und Unsicherheiten auf ihre Partner zu projizieren, was zu Konflikten und Distanz führt. Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Projektion und Rationalisierung dienen dem Schutz des Ichs vor schmerzhaften Erinnerungen und Gefühlen. Personen mit Bindungsangst tendieren zudem dazu, Nähe zu vermeiden, um sich vor der Wiederholung traumatischer Erfahrungen zu schützen. Diese Abwehrstrategien verhindern jedoch die Entwicklung tiefer und erfüllender Beziehungen. Bindungsangst hat somit tiefgreifende Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen. Bei Menschen mit Bindungsangst ist häufig ein emotionaler Rückzug oder eine starke Kontrolle in Beziehungen zu beobachten. Diese Verhaltensweisen führen dann zu Konflikten, Missverständnissen und Trennungen. Betroffene erleben oft ein wiederkehrendes Muster von Beziehungsabbrüchen, was ihre Ängste weiter verstärkt und einen Teufelskreis von Angst und Vermeidung erzeugt.
Die psychoanalytische Therapie zielt darauf ab, die unbewussten Konflikte und Ängste, die der Bindungsangst zugrunde liegen, durchzuarbeiten. Durch die Analyse von Träumen, freien Assoziationen und Übertragungsprozessen hilft der Therapeut dem Patienten, die unbewussten Ursachen seiner Bindungsangst besser zu verstehen. Ein zentrales Ziel der Therapie ist die Stärkung des Selbstwertgefühls des Patienten. Die Analyse unterstützt den Patienten dabei, emotionale Autonomie zu entwickeln und sich aus der Abhängigkeit von anderen zu lösen. Das beinhaltet die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu erkennen und zu kommunizieren, ohne Angst vor Zurückweisung oder Verlust zu haben. Bindungsangst ist ein komplexes Phänomen, das tief in den frühkindlichen Erfahrungen und unbewussten Konflikten verwurzelt ist. Aus psychoanalytischer Sicht erfordert die Behandlung von Bindungsangst eine tiefgehende Auseinandersetzung mit diesen unbewussten Prozessen und eine langfristige therapeutische Begleitung.
Andrei Tarkowski, ein russischer Filmregisseur und Drehbuchautor, der für seine tiefgründigen und poetischen Filme bekannt ist, offenbart in seiner Biographie unter dem Aspekt der Bindungsangst seine inneren Konflikte und Ängste, die sein künstlerisches Werk bestimmen und die durch seine Schilderung persönlicher Erfahrungen nachvollziehbar werden.
Geboren 1932 in der Sowjetunion, prägte ihn der frühe Verlust seines Vaters, Arseny Tarkowski, eines bekannten Dichters, der die Familie verließ, als Andrei noch ein Kind war. Diese Abwesenheit schuf eine Lücke in der symbolischen Ordnung, die Tarkowski durch seine künstlerische Arbeit zu füllen suchte, während seine Mutter, Maria Vishnyakova, die Familie allein durch schwierige Zeiten führte, was zusätzlich eine Atmosphäre von Unsicherheit und emotionaler Anspannung erzeugte. Solche Spannungen sind typisch für jemanden mit Bindungsangst, da das Verlangen nach emotionaler Nähe oft mit der Angst vor Zurückweisung und Verlust kollidiert. Während seiner Studienzeit an der VGIK, der führenden Filmhochschule in Moskau, entwickelte Tarkowski eine künstlerische Vision, geprägt von existenziellen und metaphysischen Themen, die seine innere Suche nach Bedeutung und Struktur im Symbolischen widerspiegeln.
Eva Illouz erweitert die psychodynamische Erklärung von Bindungsangst, um eine gesellschaftliche Dimension und beschreibt sie als ein strukturelles Problem des Neoliberalismus.
Seine Filme können als Ausdruck seiner eigenen Bindungsangst gesehen werden, da sie oft von Figuren handeln, die nach Verbindungen und Sinn suchen, aber immer wieder mit der Realität von Verlust und Trennung konfrontiert werden. „Der Spiegel“ etwa reflektiert Tarkowskis eigene Kindheit und die Beziehung zu seiner Mutter, ein poetisches Porträt, das die Unsicherheit und emotionale Distanz thematisiert, die er als Kind erlebte. „Der Spiegel“ zeigt, wie seine Bindungsangst in seine Filme einflossen und wie er durch seine Werke versuchte, diese Ängste zu bewältigen und zu verstehen. Tarkowskis persönliche Beziehungen waren oft kompliziert und von starken inneren Konflikten geprägt. Seine erste Ehe mit Irma Raush endete in einer Scheidung, was seine Bindungsangst intensivierte, und auch in seiner zweiten Ehe mit Larisa Tarkovskaya kämpfte er dann mit starken Verlustängsten. Sein intensiver Arbeitsstil und seine Besessenheit von Perfektion führten oft zu Spannungen in seinen persönlichen Beziehungen, wie es für Menschen mit Bindungsangst, die Schwierigkeiten haben, stabile und erfüllende Beziehungen zu führen, typisch ist.
In den 1980er Jahren entschied sich Tarkowski, die Sowjetunion zu verlassen und im Exil zu leben, ein weiterer Ausdruck seiner inneren Zerrissenheit. Die Trennung von Heimat und Familie verstärkte seine Bindungsangst, ermöglichte ihm jedoch auch seine letzten Werke wie „Nostalgia“ und „Opfer“, zu schaffen. Diese Filme sind von tiefer Melancholie geprägt. Andrei Tarkowskis Leben und Werk können als ein kontinuierlicher Versuch verstanden werden mit den tief verwurzelten Ängsten umzugehen, die durch seine frühen unsicheren Bindungserfahrungen geprägt wurden.
Wird die Perspektive der Theorie von Jacques Lacan eingenommen, eröffnet sich ein weiteres Feld der Interpretation. Lacan, der die Psychoanalyse linguistisch reinterpretierte, würde Tarkowskis Bindungsangst als ein Symptom verstehen, das tief im Unbewussten verankert ist und durch das Spiel der drei Register – Imaginäres, Symbolisches und Reales – manifestiert wird. Der frühe Verlust des Vaters hinterließ eine symbolische Leere, eine Lücke im “Nom-du-Père”, die Tarkowski sein Leben lang zu füllen suchte. Die Mutter, die in Lacans Theorie oft mit dem Begriff des “mütterlichen Begehrens” verbunden wird, schuf zusätzlich eine ambivalente Bindung, da sie gleichzeitig Quelle der Nähe und des Mangels war. Tarkowskis Werke, die durch eine starke visuelle und narrative Symbolik geprägt sind, können als sein Versuch angesehen werden, das Symbolische neu zu ordnen und ein stabiles Subjekt zu konstituieren. Filme wie „Der Spiegel“ sind nicht nur autobiographische Reflexionen, sondern auch Versuche, die fehlende väterliche Signifikanz zu integrieren. Seine Figuren, die nach Bedeutung und Erlösung suchen, spiegeln seine eigene Suche nach einer festen Position in der symbolischen Ordnung wider. Die Entscheidung, ins Exil zu gehen, kann als Akt verstanden werden, der eine erneute Suche nach einer stabilen symbolischen Ordnung und nach einem neuen Sehnsuchtsort, der das Begehrens repräsentiert.
Die grassierende Bindungsangst im Spätkapitalismus lässt sich aber nicht nur psychoanalytisch verstehen, sondern auch soziologisch: Eva Illouz erweitert die psychodynamische Erklärung von Bindungsangst, um eine gesellschaftliche Dimension und beschreibt sie als ein strukturelles Problem des Neoliberalismus. Ihre Analyse betont dabei nicht nur die individuellen Ursachen, sondern wirkt wie ein Verstärker dieser, indem sie zeigt wie gesellschaftliche Strukturen das individuelle Erleben von Bindungsangst prägen. Einerseits streben Menschen nach Beziehungen, die ihnen emotionale Sicherheit und Intimität bieten, andererseits fürchten sie, durch feste Bindungen ihre Freiheit zu verlieren.
Die kapitalistische Logik der Maximierung von Optionen, die in wirtschaftlichen Bereichen stark betont wird, überträgt sich auch auf die Liebesbeziehungen. Dies führt jedoch paradoxerweise zu einer Minimierung der Bindungsfähigkeit. Die Angst besteht darin, den „falschen Deal“ zu machen und dann dafür noch nicht einmal mehr eine Kompensation in Form einer Mitgift (Aussteuer) zu bekommen. Die scheinbar unendlichen Möglichkeiten, die Dating-Apps suggerieren, tragen zusätzlich zu der Wahrnehmung bei, dass die Partnerwahl denselben Strukturen folgen würde wie der Konsum von Gütern.
Ein Beitrag in der taz vom Mai 2005, überschrieben mit „Eine gnadenlos offene Beziehung“, beleuchtet dahingegen ein Verhältnis ohne (ökonomische) Besitzansprüche von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Die beiden waren von 1929 bis zu Sartres Tod 51 Jahre lang ein Paar, das eine freie Beziehung ohne Besitzansprüche und Einschränkungen propagierte – eine „Liebe ohne Vertrag“. De Beauvoir lehnte die Ehe aus Protest gegen die staatliche Einmischung in Privatangelegenheiten ab.
Bindungsangst ist somit vor allem ein Symptom dafür, dass Bindungen gemieden werden, wenn die Voraussetzungen als unpassend empfunden werden. Beziehungen sind jedoch das Gegenteil: Sie schaffen Raum für Verhandlungen. Die Auseinandersetzung mit der Angst und die Ausdifferenzierung ihrer Ursachen lohnen sich, da ansonsten elementare Wünsche und Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.