„I’m addicted to you / Don’t you know that you’re toxic?“, sang Britney Spears 2003 über ihr popmusikalisches „poison paradise“. Das Musikvideo zu dem Song Toxic zeigt Britney als Femme fatale in verschiedenen Kostümierungen: Zu Beginn tritt sie als Stewardess auf, die sich einen bürgerlich erscheinenden Mann schnappt, den sie auf die Flugzeugtoilette zieht und bezirzt. Als sie ihn plötzlich und unerwartet als Adonis-Erscheinung vor sich hat, zieht sie ihm schließlich frech das Portemonnaie aus der Tasche. Das war also das Toxische der Nullerjahre: Männer sind gefährlich, Frauen aber auch.
Die Femme fatale gibt es mittlerweile nicht mehr, sie ist zu einer wehenden Fahne, der sogenannten Red Flaggeworden, da das Geheimnis der Verführbarkeit gelüftet wurde: Verführbarkeit ist nichts weiter, als sich unter falschen Voraussetzungen auf etwas einzulassen. Der verführende Part gilt seit der Etablierung des Online-Datings deshalb als nicht transparent genug. Mangelnde Transparenz ist unter anderem ein Grund für das Label Red Flag und sie gilt es auf dem Datingmarkt unbedingt zu meiden.
Auch der Begriff toxisch hat Britneys Lippen längst verlassen und geistert durch die möglichen Zuschreibungen an Menschen und die Interpretationen ihrer Beziehungen: toxische Männlichkeit, toxische Weiblichkeit, toxische Beziehung. Umgangssprachlich werden auch bei diesem Thema die Red Flags geschwungen und es wird die Frage gestellt: Wer von uns beiden ist hier eigentlich toxisch?
Die zahlreichen Podcasts über toxische Beziehungen kann man wahrscheinlich nur hören, wenn man nicht gerade selbst in eine solche verwickelt ist. Das Internet ist jedenfalls voll von Erklärungen, was toxische Beziehungen sind, und die Liste der Definitionen ist dementsprechend lang. Was man dabei nie vergessen sollte: Diese Definitionen sind relativ unscharf. Wann ist eine Beziehung toxisch? Und ist das Gegenteil von toxisch tatsächlich gesund? Romantische, aber auch platonische Beziehungen werden dann oftmals als toxisch beschrieben, wenn die Dynamik der Beteiligten auf neurotischem Verhalten basiert, wenn dadurch weiterer psychischer Schaden entsteht und wenn im Allgemeinen die Beziehung tendenziell zu Leid führt.
Verkürzt gesagt: Toxische Männlichkeit sowie toxische Weiblichkeit entstehen aus dem Reproduzieren klischeehafter Rollenbilder. Während Männer nicht weinen sollen, heißt es bei Frauen „Sei ein gutes Mädchen.“ Wenn Frauen weibliche Attribute wie etwa Emotionalität, Empathie und Häuslichkeit betonen, zahlen sie dafür oft den Preis ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken. Durch die Reproduktion ihrer Klischees und Misserfahrungen im Sozialen bestärken sich Peers gegenseitig, sodass der Versuch, aus der Anpassung auszubrechen, scheitert und jeglicher Fortschritt weg von den tradierten Rollen verhindert wird.
„Ich glaube, dass ein Künstler in der Kindheit soviel Frustration und Leid auftankt, dass es dann für den Rest seines Lebens reicht. Alles, was einem später noch geschieht, ist eigentlich nur etwas, das einen bestätigt und noch ein paar nebensächliche Symptome hinzufügt. Aber nichts wirklich Entscheidendes“, sagt die Dramatikerin Elfriede Jelinek mit erschreckender Selbstverständlichkeit in dem Dokumentarfilm „Die Sprache von der Leine lassen“ (2022). Jelinek verbrachte ihre Kindheit in Josefstadt/Wien. Über diese sagt sie: „Meine Kindheit ist eine unerschöpfliche Hassbatterie.“
Durch den Mangel an gesunder Bindung und die damit einhergehende Schwächung des Selbstwerts kommt es zu einer Wiederholung der Kindheitsmuster in den eigens gewählten romantischen Beziehungen.
Künstlern wird gern nachgesagt, dass sie aus der frühkindlichen psychischen Prägung Kreativität ziehen – gut also, damit die Batterie nicht leer läuft. Jedoch ist die Prägung auch Saft für schädliche Beziehungen und verantwortlich für eine stetige Destabilisierung.
Sich von toxischen Eltern zu lösen, gelingt häufig nur mit psychotherapeutischer Begleitung und im Überschreiben der kindlichen Erfahrung. Das Eltern-Kind-Verhältnis gilt dann als toxisch, wenn sexueller, körperlicher und/oder psychischer Missbrauch in Form von Instrumentalisierung zu eigenen Zwecken der Eltern vorliegt. Dabei ist einer der drängendsten Fragen, die den Betroffenen selbst zum Adressaten des Leids macht: Bin ich schuld?
Durch den Mangel an gesunder Bindung und die damit einhergehende Schwächung des Selbstwerts kommt es zu einer Wiederholung der Kindheitsmuster in den eigens gewählten romantischen Beziehungen. Toxizität in Beziehungen kommt dann zustande, wenn die Beziehungsbeteiligten toxisches Verhalten mitbringen. Toxizität gilt als Beziehungsstörung und zeigt sich am stärksten in Liebesbeziehungen.
Ein wichtiger Teil der Selbstwerdung des Kindes ist das sogenannte Containing. „Das Halten ermöglicht dem Kind Schritt für Schritt ein Selbst, das autonom werden kann“, sagt der Psychoanalytiker Jörg Wiesse. „Es ist offensichtlich, wie rasch und langsam zugleich man im analytischen Gespräch in die Welt eines knapp 3-jährigen Kindes hineingelangt, und wie komplex diese bereits strukturiert ist.“ Die Anlagen toxischer Beziehungen liegen bereits in der frühen Kindheit. Ist die Selbstwerdung des Kindes in seinem Autonomieprozess beeinträchtigt, wird die Thematik im Beziehungserleben wieder brisant. Auch die Frage, warum den Selbstwert negativ beeinflussende Beziehungen nicht verlassen werden können, kann oftmals nur mit Blick auf die Ursprünge entsprechender Verhaltensmuster in der Kindheit beantwortet werden. Die Entscheidung für ein negatives Beziehungserleben, aus dem sich selbst nach langwieriger Reflexion kein Ausweg bietet, ist häufig mit einer Mangelerfahrung in der Kindheit verknüpft. Kein Meme aus dem Internet, kein guter Rat eines engen Vertrauten, keine rationale Anerkennung ist stark genug, diese zu überbieten.
Allerdings ist nicht jede Beziehung, die schlecht läuft, eine toxische Beziehung. Auch, wenn mittlerweile rote Fahnen in vielen Vorgärten der Beziehungen wehen, lässt sich nicht jede negative Dynamik als toxisch auffassen. „Es gibt eine Form der gestörten Ich-Strukturierung, die klinisch versteckt bleiben kann, da die betroffenen Kinder ihre Verletzung durch die Entwicklung anderer Aspekte ihrer Persönlichkeit in Schach halten können“, sagt Fernanda Pedrina, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und-psychotherapie.
Die Prothesen, die auf Grund der Verletzungen aus der Kindheit im späteren Verlauf die Funktionalität der Psyche aufrechterhalten, sind zwar ein Mittel der Kompensation im Job und Alltag, aber behindern zugleich die Entwicklung lebendiger (Liebes)-Beziehungen. Eine zu ungenaue Pathologisierung des anderen im Alltagsjargon ist nicht selten und sollte mit Vorsicht genossen werden.
Das Gegenteil einer Beziehung, die auf der Grundlage frühkindlicher und kindlicher Erfahrungen toxisches Verhalten triggert, ist eine emanzipierte und lebendige Beziehung – eine Beziehung, in der die Beteiligten ihre Prägungen einordnen und von quasi automatisiertem Verhalten zurücktreten können. „In Angst leben, heißt, in sich als im Glashaus sitzen und von innen her gegen sich mit Steinen schmeißen“, schreibt Jelinek 2006 in “Angst 2” auf ihrer Homepage. Da ist es auf jeden Fall besser, die Scheiben mit Steinen einzuschlagen, um den Weg hinaus aus dem Glashaus zu finden