I. Angst als sozialer Affekt
Wir leben in einer Kultur der Angst – nicht, weil uns täglich neue Gefahren bedrohen, sondern weil Angst selbst zum unsichtbaren Nervensystem unserer Gesellschaft geworden ist. Die Schweizer Psychoanalytikerin Jeannette Fischer sieht in ihr das emotionale Substrat der Macht. Der Soziologe Pierre Bourdieu hätte gesagt: Angst ist das affektive Dispositiv, das den Habitus nährt, ein unsichtbares Programm, das uns dazu bringt, das etablierte Spiel mitzuspielen, ohne es zu hinterfragen.
Angst ist damit mehr als ein Gefühl. Sie ist sozialer Kitt, das affektive Pendant zur symbolischen Gewalt durch die sich Herrschaft in Körper und Denken einschreibt. Sie wirkt nicht durch äußeren Zwang, sondern durch den unmerklichen Prozess der Einverleibung, durch das, was Bourdieu „Inkorporation“ nennt.
Fischer spricht von „Herrschaftsdiskursen“, die sich im Inneren des Subjekts fortsetzen.Bourdieu beschreibt denselben Mechanismus soziologisch als „symbolische Gewalt“, als eine sanfte, unsichtbare Gewalt, die auf Zustimmung beruht. Sie zwingt nicht, sie überzeugt. Sie funktioniert, weil die Menschen an ihre Notwendigkeit glauben. Fischer schreibt: „Angst regiert, ohne zu befehlen.“ Bourdieu hätte ergänzt: Sie regiert, weil sie anerkannt wird. Angst ist also kein psychisches Residuum, sondern der affektive Ausdruck der unbewussten Zustimmung zur Welt, wie sie ist.
II. Der Körper als Archiv der Macht
In meiner Praxis begegne ich dieser Angst oft in ihrer verkörperten Form. Ein Patient, Mitte dreißig, hochqualifiziert, erfolgreich und doch permanent angespannt. Er spricht davon, dass er „nie genug tue, nie ganz mithalte“. Wenn er sich abends ins Bett lege, ziehe sich seine Brust zusammen, und er hörte die Stimme seines Vaters: „Man muss sich anstrengen, sonst wird man überholt.“ Hier wird Angst als internalisiertes Machtverhältnis sichtbar. Der Vater taucht als sadistischer Repräsentant des kompetitiven sozialen Feldes auf, die väterliche Stimme fungiert gewissermaßen als eingebauter Motor symbolischer Disziplin. Was Fischer den „Herrschaftsdiskurs“ nennt, lebt im Körper dieses Mannes fort. In seiner Atmung, seiner Schlaflosigkeit, seinem unstillbaren Bedürfnis „genug“ zu sein. In der Übertragung erscheint diese Angst oft als stille Loyalität: Er will mir gefallen, möchte „richtig“ sprechen, strebt „produktive“ Sitzungen an. In der Gegenübertragung entsteht in mir das Gefühl, ihn entlasten zu wollen, ihm das Leiden abzunehmen. Doch genau hier liegt das Machtfeld: Die Versuchung, für ihn zu denken, würde das Muster wiederholen, das ihn knechtet. Erst als ich ihm in einer Sitzung sage: „Vielleicht müssen Sie hier nichts leisten, um verstanden zu werden,“ bricht er in Tränen aus. Es ist kein sentimentaler Moment, sondern der Bruch im Gehorsam.
III. Die Angst der Anpassung
Eine andere Patientin, Ende zwanzig, klagt darüber, dass sie „nie wütend sein kann“. Sie lächelt, selbst wenn sie von Demütigungen in ihrer Kindheit spricht. In ihrer Geschichte tauchen ihre Mutter auf, die ständig krank war, und ihr Vater, der ihr sagte, sie müsse „stark und verständnisvoll“ sein. Die Patientin lernte früh, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist: Nur wer brav bleibt, darf bleiben. Fischer würde sagen: Die Patientin hat gelernt, die Ohnmacht zu lieben, weil sie Sicherheit versprach. Bourdieu hätte ergänzt: Ihr Habitus produziert jene sanfte Selbstzensur, mit der sie sich in die symbolische Ordnung einfügt. Wut wäre hier subversiv, ein Bruch mit dem Anerkennen von Machtverhältnissen. Doch die Angst vor diesem Bruch ist stärker. In einer Sitzung wagt sie den Satz: „Ich merke, ich lächle, damit Sie mich nicht ablehnen.“ Ich antworte: „Dann darf das Lächeln heute einmal Pause machen.“ Ein stiller Moment folgt und Tränen laufen ihr über das Gesicht. Dadurch verwandelt sich Angst in Freiheit. Ein winziger, kaum sichtbarer Aufstand gegen die verinnerlichte Herrschaft.
Die Angst, eine Pause zu machen, ist nicht bloß als neurotisch zu verstehen, sie ist institutionell, sozial, kulturell codiert.
IV. Angst als Währung sozialer Zugehörigkeit
Auch in institutionellen Kontexten zeigt sich dieselbe Logik. In der Supervision eines Klinikteams erzählt mir eine junge Krankenschwester: „Ich habe Angst, nach acht Stunden nach Hause zu gehen, wenn alle anderen noch bleiben.“ Ein Pfleger sagt: „Ich fühle mich schuldig, wenn ich eine Pause mache.“ Eine junge Assistenzärztin äußert sich ähnlich: „Ich habe Angst, eine Pause zu machen. Ich könnte einen Notfall übersehen.“ Ein älterer Oberarzt nickt daraufhin und sagt: „Wir haben alle Angst, nicht unersetzlich zu sein.“ Die Gruppe lacht kurz, aber das Lachen verstummt recht bald. Erst im Gespräch, als diese Sätze laut werden, wird das Unsichtbare sichtbar. In der geteilten Reflexion entsteht so etwas wie das Programm einer Mikropolitik der Befreiung. Die Gruppe erkennt: Die Angst ist nicht individuell, sie ist strukturell codiert. Hier zeigt sich Bourdieus Feldmechanismus in Reinform: die Klinik als Mikrokosmos symbolischer Gewalt. Das System belohnt Überarbeitung als Tugend, Angst als Disziplin. Keiner befiehlt, dass man sich aufopfern soll, aber alle tun es. Die Macht wirkt nicht durch Vorschriften, sondern durch den Habitus: durch verinnerlichte Überzeugungen, die die berufliche Identität prägen. Die Angst, eine Pause zu machen, ist nicht bloß als neurotisch zu verstehen, sie ist institutionell, sozial, kulturell codiert. Niemand zwingt die Klinikbeschäftigten. Doch die Angst wirkt wie ein unsichtbarer Befehl: Ihr liegt ein Ethos des Opferns zugrunde, das Anerkennung verspricht. Bourdieu hätte gesagt: Das Feld erzeugt die „Illusio“, dass sich der Wert des Selbst nach dem Ausmaß der Hingabe misst. Fischer würde hinzufügen: Angst ist der Preis, den man für die Zugehörigkeit zahlt.
V. Liebe muss verdient werden, was für ein Quatsch
Eine Situation aus einer meiner Paartherapiesitzungen: Eine Frau und ihr Mann sitzen nebeneinander auf der Couch, die Schultern berühren sich fast, aber ihre Stimmen sprechen wie aus zwei völlig verschiedenen Räumen. Sie klagt, dass er nie wirklich da sei, immer arbeite, nie Zeit habe. Er sagt ruhig: „Ich arbeite, damit du dich sicher fühlst.“ Die Spannung liegt in der Luft wie eine stille Übereinkunft, eine geteilte Angst, dass Liebe nur durch Leistung verdient werden kann. Sie beide sind Gefangene desselben Habitus, der auf einer bürgerlichen Ethik gründet, in der Zuwendung immer über Nützlichkeit vermittelt ist. Ihre Beziehung ist eine Reinszenierung des sozialen Spiels: Nähe ist Tauschwert. In dieser Sitzung sagt sie leise: „Ich merke, ich kann mich nur entspannen, wenn du mich bewunderst.“ Und er antwortet: „Ich kann mich nur entspannen, wenn du zufrieden bist.“ Beide sind erschöpft vom Versuch, einander zu genügen. Und doch entsteht genau in dieser Erschöpfung ein kleiner Spalt, in dem das System sichtbar wird: das Feld der Anerkennung, das ihr Begehren kolonisiert. Der Now Moment (Stern) entsteht dort, wo beide erkennen, dass sie an der gemeinsamen, unbewussten Überzeugung leiden, dass Liebe verdient werden müsste.
VI. Der Körper, der zittert und aufhört zu gehorchen
Eine meiner Patientin, Anfang vierzig, klagt über ein chronisches Zittern in den Händen. „Es passiert immer dann,“ sagt sie, „wenn ich etwas sagen will, das ich nicht darf.“ In einer Sitzung beschreibt sie dann, wie sie bei Familienfeiern oft verstummt, wenn der Bruder oder der Vater das Wort führen. Sie lacht abwehrend: „Ich will ja keinen Streit, das lohnt sich nicht.“ Über Monate begleitet das Zittern jede Andeutung von Widerspruch, bis sie eines Tages in einer Stunde innehält und sagt: „Ich glaube, mein Körper spricht da, wo ich es nicht darf.“ Ich antworte: „Dann hören wir ihm mal zu.“ Ein paar Minuten Stille. Daraufhin sagt die Patientin: “Ich bin wütend. Ich bin so wütend, dass ich mich selbst nicht mehr ertrage.“ Das Zittern wird stärker und hört dann auf. Der Körper muss nicht mehr gehorchen. Dieser Moment ist „klein“, aber er markiert das, was Fischer „Verlernen der Angst“ nennt. Nicht heroisch, sondern tastend. Das Zittern weicht einer Sprache, die die symbolische Gewalt des Schweigens unterläuft. Bourdieu hätte gesagt: Hier wird Reflexivität zum Widerstand. Die Patientin erkennt, dass das Zittern kein Defekt ist, sondern ein Residuum von Macht in den Nervenbahnen. Und indem sie mit mir über ihre Wut spricht, bricht sie das Gesetz der Anpassung.
VII. Das Verlernen der Angst – Psychoanalyse als soziale Häresie
Wenn Fischer sagt, Angst sei das „Bindemittel der Herrschaft“ und Bourdieu schreibt, Emanzipation beginne dort, wo man die sozialen Bedingungen der Wahrnehmung erkennt, dann meinen beide denselben Akt: das Aufwachen aus der „Doxa,“ der stillschweigenden, unbewussten Zustimmung zur Ordnung. Psychoanalyse ist in diesem Sinn eine subtile Form von Häresie. Sie unterwandert den Gehorsam nicht durch Parolen, sondern durch Bewusstwerdung. Sie zersetzt die symbolische Gewalt von innen heraus, indem sie ihre affektive Basis – die Angst – verstehbar macht. In der analytischen Situation geschieht das zumeist leise. Ein Satz, ein Blick, ein Schweigen kann reichen, um den Bann zu brechen. Die Angst bleibt, aber sie verliert ihr Monopol. Sie wird zu einem Signal, nicht zu einem Gesetz. Vielleicht ist das der Beginn einer neuen Aufklärung, die darin mündet, nicht die Angst besiegen zu wollen, sondern sie als das zu verstehen, was sie ist: Ausdruck eines sozialen Gefüges, das uns glauben lässt, die Welt sei so, wie sie sein müsse. Und genau dort, wo wir beginnen, an dieser Notwendigkeit zu zweifeln, beginnt die Freiheit.