Fleckenkünstler oder das Heilsversprechen vom inneren Kind

26 Februar 2022

Markus Thiele

Fleckenkünstler oder das Heilsversprechen vom inneren Kind

Stefanie Stahl schreibt ein Buch, das den Untertitel: „Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme“ trägt. Die Einschränkung „(fast)“ gilt für Schicksalsschläge, wie sie selbst sagt.

Die Leser sind begeistert und das Buch schafft es auf die Spiegel-Bestsellerliste. Aus Lesern werden schnell auch Hörer, weshalb sich die beiden Podcasts „So bin ich eben“ und „Stahl aber herzlich“ gut klicken.

Warum auch nicht? Die Lösung fast aller Probleme auf 275 Seiten im handlichen Taschenbuchformat. Das Buch schließt mit den Worten: „Du bist, was du bist, und das ist alles, was du bist, und du bist gut so.“ Noch besser: Zwar nur kleines Geld in die Lektüre investiert, aber am Ende doch reich an sich selbst geworden.

Dass sich bestimmte Themen wie von alleine vermarkten und erfolgreich werden, hat systematische Gründe. 

Stefanie Stahl (Psychologin, Therapeutin und Autorin) sagt, dass ihr Buch wie eine psychotherapeutische Sitzung angelegt sei. Nur eben ohne Psychotherapeuten. Ohne den für die Therapie vorgesehenen Raum. Ohne Beziehung zum Therapeuten. Ohne dynamische Veränderungen. Ohne Übertragungen. Ohne Dauer. Also: Ohne all das, was eine Psychotherapie ausmacht und womit sie Symptome lindern kann, wenn es gut läuft.

Nur kann der Anspruch an eine psychotherapeutische Sitzung, die nur mit sich und der subjektiven Leseerfahrung zusammenhängt, sich auch gegen sich selbst richten. Eine auto-therapeutische Sitzung sozusagen.

Es gibt psychisch sehr instabile Menschen, die sehen andere Menschen ausschließlich als ihre Selbstobjekte an. Die anderen sollen sie nähren und bewundern.

Zu einem Buch zu greifen, welches erklärtermaßen Probleme lösen will, setzt voraus, dass es benennbare Probleme gibt. Diese sollen sich dann im Vorübergehen im Feelgood-Modus beheben lassen. Schwere Last mit leichter Kost zu beheben, ist ein Heilsversprechen, das überprüft werden sollte.

Stefanie Stahls Problemlösungsstrategie muss dem Anspruch gerecht werden, individuelle Problemstellungen zu schematisieren, damit nicht bloß die Probleme einzelner gelöst werden. Hierfür entwirft sie ein System, in dem individuelle Probleme zu allgemeinen Glaubenssätzen umformuliert werden: „Negative Glaubenssätze, die unmittelbar den Selbstwert betreffen. Ich bin nix wert! Ich bin nicht liebenswert! Ich genüge nicht! Ich bin falsch! usw.“

Diese werden im Weiteren umformuliert: Als negative Glaubenssätze über die Beziehung zu meinen Eltern. Dann in negative Glaubenssätze, die die Lösung für das Problem mit meinen primären Bezugspersonen bereitstellen hin zu negativen Glaubenssätzen im Allgemeinen: „Die Welt ist schlecht.“

Stefanie Stahl gibt dem Leser darüber hinaus Übungen mit. Mittels der Übungen könne das sogenannte Schattenkind identifiziert werden. Im nächsten größeren Abschnitt geht es dann darum, das verschattete innere Kind zu heilen. Dieser Teil beginnt mit: “Den meisten Kummer machen wir uns im Leben mit der Sorge, dass wir falsche Entscheidungen treffen und Fehler machen.“ Derartig starke Behauptungen engen allerdings den eigenen Zugriff auf das Thema ein. Ist man erstmal im Lesefluss, nickt das innere Kind bestärkend: Genau, aber woher weiß sie das? 

Im letzten Drittel des Buches soll dann das Sonnenkind entdeckt werden: „Das Sonnenkind ist ein innerer Gefühlszustand, den wir alle lieben!“

Was Freud mit dem Es meint, Lacan mit dem Realen, beschreibt Stefanie Stahl als inneres Kind: „Wie ich bereits geschrieben habe, ist das „innere Kind“ eine Metapher, die die unbewussten Anteile unserer Persönlichkeit umschreibt, die in unserer Kindheit geprägt wurden.“

Sie setzt die Definition, dass Glaubenssätze die Gefühle programmieren und macht sich schematisch an die Ausrottung falscher Glaubenssätze. Es ist die Simplifizierung und das Versprechen auf ein gutes Leben und die Voraussetzung, dass komplexe Krisen einfach gelöst werden können, die reizvoll klingt. Aber gibt es wirklich Flamingos, die auf einem Bein den Mount Everest erklimmen?

Die Kritik wird nicht im Detail geübt, vielmehr daran, was ein Buch mit derartiger Betonung auf Lösung und Psyche alles suggeriert, ohne die Suggestion benennbar zu machen. Ratgeber bzw. Selbtshilfeliteratur stehen in einer langen Tradition, beginnend im Barock. Dort nannte man die Autoren dieses Genres „Fleckenkünstler“. Es geht darum, das Unliebsame, das Störende, gar Verstörende wegzuwischen. 

Stefanie Stahl weist den Leser zuerst auf seine Möglichkeit hin – abhängig von seinen Glaubenssätzen – entweder ein glückliches und erfolgreiches oder ein stagnierendes und leidvolles Leben haben zu können. Aber was, wenn sich nach 275 Seiten der Bezug zur Welt nicht hin zum Guten verändert hat?

Sollte ihre Behauptung stimmen, dass jemand allein für das Glück in seinen Beziehungen verantwortlich sei. Wie tief kann der Fall dann sein, falls Leser mit den inneren Kind-Theorie-Übungen daran nichts ändern können?

Auf Stefanie Stahls Webpage findet man eine eher persönlich anmutende Biografie: „Am 27. Dezember 1963 wurde ich in Hamburg geboren. Als Hausgeburt. Damals sehr ungewöhnlich, aber meine Mutter wollte nicht über Weihnachten ins Krankenhaus.“ So profan wie die Autorin unterstellt, dass ihre Einteilung der Psyche in innere Schatten- und Sonnenkinder funktioniert, möchte man sie an dieser Stelle fragen, ob ihr ihre Theorie auch dabei hilft, ein glückliches Leben zu führen. Trotz einer Mutter, die ihre Bedürfnisse bereits am Beginn ihres Lebens über das Wohl ihres Kindes gestellt hat. 

Ihre Überlegungen seine negativen Glaubenssätze zu überprüfen und die dahinter stehenden Manifestationen zu ergründen, ist nicht schlecht. Nur sollte der Untertitel ihres Buches wohl eher heißen: „Eine Einführung in die menschliche Psyche“. Dieses „vorsichtige“ Buch würde allerdings keine Beziehungsprobleme lösen, aber die Beziehungskonflikte könnten möglicherweise in einer Redekur, sprich Psychotherapie besprechbar gemacht werden.