Lustgewinn – Unlustvermeidung

26 April 2019

Markus Thiele

Lustgewinn – Unlustvermeidung

Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, daß, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muß – daß, wer das »Himmelhoch-Jauchzen« lernen will, sich auch für das »Zum-Tode-betrübt« bereit halten muß? Und so steht es vielleicht!“ Nietzsche verstrickt sich hier in ein Verständnis von Lust und Unlust, in welchem beide Pole ein und derselben Menge entspringen. So würde Lust nicht nur bedeuten, diese zu gewinnen, sondern sich im selben Moment auch ihren Gegenspieler einzukaufen. Kurz: keine Lust ohne Unlust, dafür aber auch keine Unlust ohne Lust.

Jedoch meint der bevorzugte Lustgewinn und das koexistente Unlustvermeiden nicht, dass der Mensch dem Hedonismus anheimfallen muss: Soll ich Arbeiten? „Heut vielleicht mal nicht, mir fehlt dazu die Lust.“ Vielmehr umkreist der Lustgewinn sowie die Unlustvermeidung eines der vier menschlichen Grundbedürfnisse, die der Schweizer Psychotherapeut Klaus Grawe definiert hat:

Bindung
Selbstwertschutz/Selbstwerterhöhung
Orientierung und Kontrolle
Lustgewinn/Unlustvermeidung

Lust- und Unlusterfahrungen entstehen nicht durch eine vermeintlich objektive Eigenschaft von Reizen, sondern durch emotional-kognitive Bewertungsprozesse.

Je nach Befriedigungsstand dieser Bedürfnisse würde die intersubjektive Wahrnehmung von Selbst und Welt moduliert. Dieses Modell des „psychischen Apparates“, das wie ein Thermostat des Wohlergehens funktionieren soll, bewegt sich auf einem Temperaturunterschied von Reiz und Ziel. Das Modell entbehrt jeglicher Hierarchie und lässt alle Bedürfnisse gleichsam nebeneinander existieren. Der wichtigste Aspekt dabei ist jedoch, dass der Befriedigungsgrad dieser Bedürfnisse die „Temperatur“ unserer Handlungen bestimmen würde.

Die Bestimmung der Grundbedürfnisse aus psychoanalytischer Sicht ist dahingehend erst vollständig, wenn man davon ausgeht, dass jedem offensichtlichen lust- und unlustorientiertem Handeln eine Spannbreite an Symptomen und somit ein Mangel an Befriedigung der Grundbedürfnisse zu Grunde liegt. Die Vermeidung von Arbeit etwa bedeutet nicht die Arbeitstätigkeit an sich mit Unlust zu assoziieren, aber vielleicht gibt es ja Konflikte, die man am Arbeitsplatz nicht zu lösen weiß. Aber nicht nur in dieser Hinsicht sind Lust und Unlust nicht eindeutig zu erfassen:

„Lust- und Unlusterfahrungen entstehen nicht durch eine vermeintlich objektive Eigenschaft von Reizen, sondern durch emotional-kognitive Bewertungsprozesse“, schreibt der Psychotherapeut Michael Borg-Laufs. Er betont, wie wichtig es sei, die beschriebenen (emotionalen) Grundbedürfnisse bei Kindern zu stillen, damit diese nicht auf unbewusstes kompensatorisches Handeln angewiesen sind. Das führe nämlich zu einem ausgeprägten Drang nach Aufmerksamkeit, um sein Bedürfnis nach Selbstschutz zu stabilisieren (Annäherungsverhalten) oder im Gegenteil potentiell verletzende Situationen zu meiden (Vermeidungsverhalten).

Insbesondere im psychotherapeutischen Sinne ist diese Transitzone der Bewertung von Lust und Unlust ein erkenntnisreiches Feld. Dann macht Nietzsches Aussage, Lust und Unlust seien Teil der gleichen Menge Sinn: Denn im Streben nach Lusterfahrungen ist es immer wichtig zu erkennen, welche das Selbst-schützende Unlustvermeidung sich gleichsam dahinter verbirgt.