Der Corona-Blues

26 Juni 2020

Markus Thiele

Der Corona-Blues

„Die Ausnahme denkt das Allgemeine mit energischer Leidenschaft“, schreibt Søren Kierkegaard. Auch umgekehrt ist das Allgemeine ohne Ausnahme als solches nicht zu erkennen. Ausnahme- und Normalzustand bedingen einander, insofern als sie in ihrer Abweichung voneinander ihre jeweilige Bedeutung gewinnen: Ausnahmen bestätigen die Regel, wie es im Volksmund heißt, wenn es darum geht, eine Theorie auf ihre Falsifizierbarkeit zu überprüfen.

Jedoch sind Ausnahme- und Normalzustand in ihrer Konsequenz auf zwei Ebenen streng voneinander unterschieden: Zum einen auf der Ebene emotionaler und gefühlsmäßiger Zustände des Einzelnen und zum anderen hinsichtlich demokratischer und autokratischer Prozesse im Allgemeinen.

Mit der zweiten Konsequenz beginnend und sich auf die aktuelle Situation beziehend, liegt die Ausnahme derzeit unter anderem darin, dass politische Entscheidungen in einem für unsere Gesellschaft ungewöhnlichen Ausmaß auf wissenschaftliche Empfehlungen angewiesen zu sein scheinen. Das Wesen der Wissenschaft ist der Streit um die Theorie. Innerhalb dieses Spektrums werden politische Entscheidungen gefällt. Wir befinden uns entgegen der wissenschaftlichen „Norm“, Entscheidungen basierend auf sich widerstreitenden Argumenten zu treffen, in einem Ausnahmezustand als Normalzustand, in dem der Diskurs paralysiert und das Leben an den Universitäten stillgelegt wurde: Der faktische Zutritt und die Berührung mit der Alma Mater (der nährenden und gütigen Mutter) werden verwehrt. Wir befinden uns in einer maskierten Geschichte der Agonie. In einem Zustand, in dem die Genauigkeit der Diskussion in den Medien in deren Ungenauigkeit liegt und in einer Diskreditierung vom Mainstream abweichender Positionen nach dem etwas unbekannteren Diktum von C. Schmidt: „Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.“

Was aber bedeuten Ausnahme- und Normalzustand für unseren allgemein psychischen Zustand? Antonio Damasio unterscheidet: „Die Welt der Emotionen besteht vorwiegend aus Vorgängen, die in unserem Körper ablaufen (…). Gefühle von Emotionen dagegen sind zusammengesetzte Wahrnehmung dessen, was in unserem Körper und unserem Geist abläuft, wenn wir Emotionen haben.“

Denn genauso wie sich die Ausnahme nur an der Norm messen lässt, liegt die Freiheit des Menschen auch da, wo ihr Dilemma anfängt, indem sie dennoch als Freiheit spürbar an ihre Grenzen gerät.

Die Ausnahme versetzt nicht nur das gesellschaftliche Leben, sondern auch das eigene Erleben in eine Art gefühlsmäßigen Notaggregat-Zustand. Die Sparflamme leuchtet natürlich nicht viel weiter als die Sicht benötigt, um wenigstens nicht in die Schlucht zwischen den Klippen zu fallen. Von Ausblick kann da nicht die Rede sein: Es bleibt also wenig erhellend, wenn die Zustände von Geist und Körper nicht genügend Spiegelfläche in den Emotionen bekommen.

Die Unterscheidbarkeit zwischen einem Normal- und dem derzeitigen Ausnahmezustand fällt mit voranschreitender Zeit auf emotionaler Ebene allerdings schwerer: Der anfängliche Schock der Umstellung weicht der Resignation den Umständen gegenüber. Dieser Zustand ist eines der wesentlichen Merkmale der Depression. Stichwort: Corona-Blues. „Tatsächlich wirkt die Corona-Krise geradezu wie die Realisierung eines depressiven Seelenzustandes in der Außenwelt“, schreibt Theresa Schouwink. „Typisch für die Schwermut ist der Eindruck, die Welt nicht erreichen zu können und das Geschehen nur aus Beobachterperspektive zu verfolgen.“

Zu dem kommt eine diffuse Angst, entstehend aus der Zuspitzung, sich in einem Konstrukt aus Richtig und Falsch wiederzufinden. Das Schwerste und zugleich Hilfreichste in einer Depression kann der Akt der Selbstermächtigung sein. Dieser kann derzeit zum Beispiel darin bestehen, sich des Ausmaßes bewusst zu werden, was der Begriff des Risikos und dessen Eindämmung meint. In Betracht sind dabei sowohl das eigene Risiko als auch das für die Allgemeinheit zu ziehen. Die Eindämmung des Risikos der Verbreitung des Virus ist nicht immer deckungsgleich mit dem Risiko, das damit einhergeht, sein eigenes Überleben zu sichern.

Foucault schreibt in „Wahnsinn und Gesellschaft“, dass die Psychologie heute „unerbittlich[er] Teil der Dialektik des modernen Menschen bei der Auseinandersetzung mit seiner Wahrheit“ ist.

Abgesehen also von der zweifelhaften politischen Legitimation bei der Verhängung eines Ausnahmezustandes, eröffnen sich für den Menschen in der Beschränkung seiner Freiheiten der dialektischen Grundbeschaffung nach ebenso neue Freiheiten. Denn genauso wie sich die Ausnahme nur an der Norm messen lässt, liegt die Freiheit des Menschen auch da, wo ihr Dilemma anfängt, indem sie dennoch als Freiheit spürbar an ihre Grenzen gerät. Auch die Einschränkung denkt die Freiheit und deren Schlupflöcher mit energischer Leidenschaft.