Job oder Berufung

26 Mai 2020

Markus Thiele

Job oder Berufung

Man könnte fast meinen, Beruf und Berufung seien schlicht nur durch eine Silbe voneinander unterschieden. Berufener durch Berufung durch das Vernehmen einer Stimme von Außen zu sein, so sind pointiert Papst- und Priesterbiographien nachzuvollziehen. Ebenso können im akademischen Bereich Professoren an einen Lehrstuhl berufen werden. Außerhalb dieser Arbeitsbereiche ist es aber inzwischen weit verbreitet sich auf die Suche nach seiner eigenen Berufung zu begeben.

Gerade wenn es darum geht bei seiner Berufswahl und -ausübung seinen Fokus auf die Identifikation mit der auszuübenden Tätigkeit zu legen, ist es wichtig, dabei zu bedenken, dass zwischen dem Beruf und der Berufung mehr als nur eine Silbe liegt.

Der Unterschied ist die sogenannte innere Stimme, die man hören, die man entdecken bzw. der man folgen sollte, um seiner versteckten Berufung näher zu kommen. Wer oder was ist aber diese innere Stimme, die die Berufung offenbaren soll? Wird sie etwa durch ein übernatürliches Wesen übermittelt oder ist man es vielmehr selbst als Konglomerat seiner Fähigkeiten und Talente, die eins werden wollen mit der beruflichen Tätigkeit?

Bei der Berufswahl spielen eine Reihe endogener und exogener Faktoren eine Rolle. Innere (endogene) Faktoren sind zum Beispiel physische Voraussetzungen, aber auch das Interesse und die Eignung zählen dazu. Äußere Faktoren (exogene) sind außerhalb des Einwirkungsbereich wirksam und ergeben sich aus gesellschaftlichen und ökonomischen Einflüssen. Beide Einflussschneisen unterliegen der psychischen Charakterstruktur, die den Zugang zu den eigenen Interessen beeinflusst und gesellschaftliche Anpassung im besten Fall reflektiert und positiv nutzbar macht.

Denn einer Tätigkeit nachzugehen, mit der keine allumfassende Identifikation einhergeht, führt höchstens dazu, Energie in die künstliche Erzeugung einer illusionären Identifikation zu stecken.

Ein Berufener der Kirche zu sein, bedeutete sein Ego und seine Bedürfnisse einzuschränken, um so im Dienste der Kirche wirksam zu werden. Das Heiligtum der Gegenwart außerhalb des Religiösen scheint darin zu bestehen, sein Ego im größten Maße zu befriedigen. Ein Schmelztiegel der Selbst und Tätigkeit mischt, d. h. eine Nichtunterscheidbarkeit von Sein und Arbeit. Das scheint die neue Berufung zu sein.

Von einer Berufswahl, die sich als Berufung verstehen will, profitieren sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber, denn der Arbeitende ist bereit, die Arbeit zu glorifizieren und der Arbeitgeber profitiert vom vehementen Einsatz des Arbeitenden. Die Übersetzung des Berufes mit der Berufung ist einerseits positiv, jedoch handelt es sich andererseits trotz allem um eine Verwechslung, die spätestens dann problematisch wird, wenn die vermeintliche Berufung als Grund für nicht regulierbare Erschöpfungszustände (Burn-out, depressive Episode) und die Abkehr vom sozialen Leben wird.

Denn einer Tätigkeit nachzugehen, mit der keine allumfassende Identifikation einhergeht, führt höchstens dazu, Energie in die künstliche Erzeugung einer illusionären Identifikation zu stecken. Es geht also nicht mehr darum, seine Berufung wie bei Priestern im metaphysischen Sinne als Stimme von Außen zu vernehmen.

Im Gegenteil geht es aber auch nicht darum, diese mit seiner eigenen Stimme zu verwechseln, das ist nämlich dann nicht mehr als eine narzisstisch gefärbte „Religion der Berufung“.