Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften ist ein Roman der radikalen Modernität, der nicht nur eine Epoche im Umbruch, sondern auch die Fragilität der Kategorien von Identität, Geschlecht und gesellschaftlicher Ordnung beleuchtet. Besonders die Figur Agathes, Ulrichs Schwester, eröffnet dabei ein Spielfeld für feministische Theorie: Sie verkörpert die Spannung zwischen Subversion und Unterwerfung, zwischen der Dekonstruktion normativer Weiblichkeitsrollen und der Macht persistenter patriarchaler Strukturen.
Judith Butlers Konzept der Geschlechter-Performativität und Pierre Bourdieus Theorie der männlichen Herrschaft bieten zwei komplementäre Brillen, durch die Agathes Rolle zu verstehen ist. Butler hebt die Möglichkeit der Subversion hervor, während Bourdieu zeigt, wie tief Herrschaft in Körper und Habitus eingeschrieben bleibt.
Agathe bei Musil: Die Schwester als Gegenfigur zur Norm
Agathe tritt im Roman im zweiten Teil (Seinesgleichen geschieht) auf und wird als „Parallele“ zu Ulrich eingeführt. Schon diese Bezeichnung macht sie zu einer Figur der Spiegelung und Verschiebung. Ihr Auftritt unterläuft klassische weibliche Rollenbilder: Agathe erscheint nicht als Ehefrau oder Mutter, sondern als Witwe, die mit der Vergangenheit ihres Ehemanns gebrochen hat. Musil beschreibt sie als eine Frau, die „nicht recht in die Formen passen wollte, die man für sie vorgesehen hatte“ (Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, II. Teil).
In ihrer Weigerung, sich in die Rolle der „guten Witwe“ zu fügen, dekonstruiert sie die Erwartung, dass eine Frau ihre Identität aus der Relation zum Mann bezieht. Genau hier setzt Butlers Theorie an: Agathes Verhalten entlarvt Geschlechterrollen als performative Wiederholungen – die verweigert werden können.
Butler: Performativität und Subversion
Butler argumentiert, dass Geschlecht durch die Wiederholung normativer Akte hergestellt wird. Agathe verweigert diese Wiederholung. Ihre Abneigung gegen Ehe und Mutterschaft zeigt, dass sie nicht bereit ist, Weiblichkeit im bürgerlichen Sinn zu „performen“.
Eine Schlüsselszene hierfür findet sich in Agathes Reflexion über die Ehe, die sie als „Zwangsgemeinschaft“ empfindet, in der nicht Liebe, sondern Konvention dominiert. Indem sie sich diesem Zwang entzieht, „unterläuft“ sie das Spiel der Norm.
Noch deutlicher wird die subversive Dimension in der Geschwisterbeziehung zu Ulrich. Hier überschreiten beide nicht nur gesellschaftliche Tabus, sondern schaffen eine Zone der Intimität, die weder durch Geschlecht noch durch familiäre Rollen klar definiert ist. Butler hätte dies als performative Subversion gelesen – ein „Spielraum“, der die Stabilität der symbolischen Ordnung ins Wanken bringt.
Doch diese Sehnsucht bleibt utopisch, schwebend – sie kann nicht in konkrete Praxis überführt werden.
Bourdieu: Habitus und männliche Herrschaft
Doch wo Butler Öffnungen sieht, betont Bourdieu die Persistenz der Herrschaft. In Die männliche Herrschaft beschreibt er, wie patriarchale Strukturen im Habitus verankert sind. Selbst Agathes Subversion bleibt von diesen Mechanismen durchzogen. Ein Beispiel: In den Gesprächen mit Ulrich über „die andere Lebensmöglichkeit“ zeigt sich ihre Sehnsucht nach einer neuen Ordnung jenseits von Gesellschaft und Konvention. Doch diese Sehnsucht bleibt utopisch, schwebend – sie kann nicht in konkrete Praxis überführt werden. Bourdieu würde dies als Wirkung der symbolischen Macht deuten: Auch die Rebellion bleibt im Rahmen der Herrschaft eingeschlossen.
Musil selbst deutet dies an, wenn er beschreibt, dass Agathe und Ulrich zwar von einer „anderen Ordnung“ träumen, ihre Beziehung aber in eine „Stagnation der Möglichkeiten“ führt. Der patriarchale Habitus wirkt unterschwellig weiter – auch dort, wo er scheinbar überwunden ist.
Psychoanalytische Dimension
Eine psychoanalytische Lesart verstärkt diese Ambivalenz. Agathes Bindung zu Ulrich kann als Infragestellung des Ödipuskomplexes gelesen werden: Sie verweigert sich der „gesetzten“ Rolle der Frau, die nach dem symbolischen Gesetz des Vaters (Lacan: Nom-du-Père) bestimmt ist. Die Geschwisterbeziehung ist eine Grenzfigur, die den Ort des Begehrens verschiebt.
Doch wie Lacan betont, gibt es kein „Außerhalb“ der symbolischen Ordnung. Auch Agathes subversive Suche nach einer „anderen Ordnung“ bleibt prekär: Sie destabilisiert die Norm, ohne sie aufheben zu können. Agathe ist eine Figur der Doppelbewegung: Mit Butler lässt sie sich als Subjekt der Subversion lesen, das durch performative Verweigerung neue Räume der Identität eröffnet. Mit Bourdieu zeigt sie die Grenzen dieser Subversion, da der Habitus und die symbolische Gewalt patriarchaler Herrschaft ihre Möglichkeiten beschneiden.
Agathes Ambivalenz ist deshalb keine Schwäche, sondern der eigentliche theoretische Gewinn: Sie macht sichtbar, dass Befreiung nicht als reiner Bruch, sondern nur als prekäre Bewegung innerhalb der Strukturen gedacht werden kann.
Musils Agathe steht exemplarisch für die Spannung zwischen Dekonstruktion und Herrschaft, zwischen Subversion und Einschreibung. Sie ist weder Heldin einer völligen Befreiung noch bloßes Opfer patriarchaler Normen – sondern ein „Zwischenwesen“, das die Bruchlinien der Moderne markiert.
In dieser Ambivalenz liegt ihre Bedeutung: Agathe verkörpert die Möglichkeit, dass Subjektivität weiblich neu gedacht werden kann – aber nur unter der Bedingung, die Persistenz symbolischer Herrschaft mitzudenken. Damit ist sie eine literarische Figur, die Butler und Bourdieu zugleich bestätigt und herausfordert.