Die Kindheit als Determinante der Zukunft 

26 April 2024

Markus Thiele

Die Kindheit als Determinante der Zukunft 

Eltern haften für ihre Kinder: Am 14. März 2024 wurde nach der Mutter auch der Vater eines Teenagers vor Gericht schuldig gesprochen, der 2021 vier Schüler in Michigan erschossen hatte. Das Urteil begründet den Schuldspruch gegen die Eltern mit fahrlässiger Tötung. Ihr Sohn wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Die Verurteilung der Mutter ist der erste Fall in den USA, in dem ein Elternteil in persönlicher Verantwortung für seinen Teenager bestraft wurde. Dieser Fall wirft die Frage auf: Haben Eltern konkret Schuld an dem Verhalten ihrer Kinder? Im geschilderten Fall aus den USA werden konkrete Vorwürfe erhoben, was die  Zugänglichmachung der Tatwaffe und das Ignorieren von Hinweisen aus dem schulischen Umfeld betrifft. Verlässt man jedoch diese Ebene konkreter Schuldvorwürfe, stellt sich die Frage allgemeiner und spitzt sich an der Auslegung des Schuldbegriffs erst zu: Determiniert das Verhalten der Eltern das ihrer erwachsenen Kinder?

„Sie (die Stadt) ist der namenlose Herkunftsort, wo ich bei jeder Rückkehr gleich wieder von einer Benommenheit befallen werde, die mir jeden Gedanken und fast jede präzise Erinnerung nimmt, als würde mich der Ort von neuem verschlingen“, schreibt die Autorin A. Ernaux über ihre Geburtsstadt, in der sie Zeugin davon wird, wie ihr Vater ihre Mutter eines Tages umbringen will. 

Im Fall des beschriebenen Täters aus den USA wissen wir nicht, ob er traumatische Erfahrungen gemacht hat. Was wir wisse, A. Ernaux hat einen Nobelpreis für ihr autobiografisches Schreiben gewonnen, das in diesem Fall ein traumatisches Erlebnis in den Mittelpunkt stellt, ein gagner malheur, wie es heißt, wenn man durch ein schlimmes Erlebnis seines Lebens nicht mehr froh sein kann. In dem Roman „Scham“ schreibt sie über die Auswirkungen dieses Ereignisses im Jahr 1952 auf ihr weiteres Leben. 

„Nichts kann ungeschehen machen, dass ich diese Schwere, diese Erfahrung der Nichtung empfunden habe. Die Scham ist die letzte Wahrheit. Sie vereint das Mädchen von 52 mit der Frau, die dies jetzt gerade schreibt.“

Zwischen der Prägung durch Erziehung und dem Ausmaß traumatischer Erfahrungen gibt es einen Unterschied. Aus der Perspektive des Geldes gesprochen, sollte man – zumindest der sogenannten Dunedin-Studie nach – die Prägung durch die Eltern aber auf jeden Fall ernst nehmen. Diese hat ermittelt, dass rund 20 Prozent der Kinder für 80 Prozent der gesellschaftlichen Kosten verantwortlich sind. Der Ausspruch: „Das Kind ist der Vater des Mannes“ bekommt so gewissermaßen eine soziologische Realität.

Das 20. Jahrhundert ist voll von Erziehungs- und Beziehungstheorien und bedient damit ein immenses Interesse des Menschen, das sich nicht mehr allein auf genetische Prägung zurückziehen will. Die US-amerikanische Zeitung „Time Magazine“ ist 2012 mit einem Cover erschienen, das eine posende Mutter mit ihrem dreijährigen Sohn zeigt, der erhöht auf einem Stuhl stehend, von ihr gestillt wird. Sie ist „in shape“, ihr Sohn trägt eine Hose mit Camouflage-Muster. Der Titel ist: Are you mum enough? Wie lange muss man denn wohl einen kleinen Soldaten säugen, bis er man enough ist? Es ist nie uneigennützig, das eigene Kind glücklich zu machen. Es gibt eine grundlegende symbiotische Wechselwirkung zwischen dem Glück der Eltern und dem des Kindes. Die good enough mother ist also auch die good enough woman – insofern handelt es sich erst einmal um eine Win-win-Situation.

Donald Winnicott, Kinderarzt und Psychoanalytiker Anfang des 20. Jahrhunderts, hat die Theorie der good enough mother in einer Weise formuliert, die dem beim Blick auf das erwähnte Cover entstehenden Eindruck entgegensteht: „Eine Mutter ist weder gut noch schlecht noch das Produkt einer Illusion, sondern ein eigenständiges und unabhängiges Wesen: Die gute Mutter passt sich anfangs fast vollständig an die Bedürfnisse ihres Kindes an, und im Laufe der Zeit passt sie sich immer weniger vollständig an, je nach der wachsenden Fähigkeit des Kindes, mit ihrem Versagen umzugehen. Ihre Verweigerung, sich an jedes Bedürfnis des Kindes anzupassen, hilft ihm, sich an die äußeren Gegebenheiten anzupassen.“

Der Kinderpsychiater John Bowlby hat dieses Thema in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt gemacht und spricht von einem Urvertrauen, das in Kinder bis zur Vollendung ihres zweiten Lebensjahres angelegt wird.

Wie Freud davon auszugehen, dass die Kindheit die Wiege der Persönlichkeit ist, bringt die Erziehenden in eine Verantwortung, für die eine Sprache gefunden werden muss. Aber was ist überhaupt eine glückliche Kindheit? Wie funktioniert die Prägung und worauf hat diese Einfluss? „Erfahrungen in der Kindheit können sich durchaus ins Erbmaterial einschreiben, es können sich Moleküle an die DNA anheften, die dann mitbestimmen, wie gut oder schlecht die dort gespeicherte Information ausgelesen wird. Dabei ändert sich zwar nicht das Genom selbst, aber die Art und Weise, wie es im Körper wirksam wird. Das kann Auswirkungen auf die Stressregulation haben.“ (ZEITmagazin 25/2023)

Die neurologische Komponente ist insbesondere im Rahmen der Bindungstheorien eine verlässliche Quelle. Die Verbindung zwischen präfrontalem Cortex und Amygdala muss erst reifen, wobei die stabile Bindung zur Bezugsperson eben eine entscheidende Rolle spielt. Die Amygdala ist an der Entstehung von Furcht beteiligt, der präfrontale Cortex kann das Angstgedächtnis umzäunen. Bindungstheoretisch ist also genau genommen nicht von nature versus nurture zu sprechen, sondern von Natur als Bedingung von Erziehung. An den späteren Bindungen wird festgestellt, welche Wirkfaktoren die Kindheit auf den Erwachsenen hat, wobei die Diskussion über den biologischen Determinismus in den Hintergrund gerät, sobald deutlich wird, wie stark der Einfluss äußerer Faktoren bezogen auf das Bindungsverhalten ist.

Die Bindungstheorie basiert auf der Annahme eines vertrauten, verlässlichen, emotional verfügbaren und liebevollen Umfeldes. Der Kinderpsychiater John Bowlby hat dieses Thema in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt gemacht und spricht von einem Urvertrauen, das in Kinder bis zur Vollendung ihres zweiten Lebensjahres angelegt wird. Das Baby muss lernen: Wenn ich etwas brauche, bin ich nicht allein. Auf diese responsive Art entwickelt sich ein tiefes Sicherheitsgefühl, das die Grundlage für späteres Explorationsverhalten ist und die Emotionsregulation fördert und generell einen höheren Selbstwert etabliert.



Der Diskurs ist vor allem dadurch geprägt, dass der Gegensatz zwischen Determinismus und Freiheit in verschiedener Weise als Grundlage der Argumentation herangezogen wird. Jedoch muss das Gegenteil von Determinismus nicht sein, in jedem Moment frei von Erziehung und Prägung zu entscheiden und zu handeln, auch wenn der Mitbegründer der Nouvelle Philosophie Bernard-Henri Lévy behauptet, dass zwischen ihm als Kind und ihm als Autor kein Zusammenhang bestehe. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Erleben ist sicherlich „Selbstwirksamkeit“‘ – ob man sich dieser als Erwachsener bedienen kann, ist jedoch eben eine Frage der Kindheit. Selbstverständlich kann man die Kindheit sein Leben lang als ungeöffnete Büchse der Pandora bei sich aufbewahren, doch diese bei sich zu tragen, wird nicht an der Persönlichkeit vorbeiziehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Es gibt sie, die Schuld der Eltern, auch wenn diese in der Erziehung an Konzepten ihrer Zeit festgehalten haben:

„Die Kinder zu züchtigen und zu bestrafen, weil man glaubte, sie seien von Natur aus böse, gehörte zu den Pflichten guter Eltern. (…) Oft beendete eine Mutter oder ein Vater die Erzählung über ein Vergehen und die darauffolgende Strafe mit den Worten: ‚Fast hätte ich das Kind totgeschlagen!‘“, schreibt A. Ernaux.

Bleibt Kindern die emotionale Verfügbarkeit des Umfeldes vorenthalten, stellen sich aufgrund dieses Mangels bzw. dieser Benachteiligung Fragen im Spiegel des Erwachsenenlebens, die unabdingbar auf Kindheitsfragen rekurrieren. Gegenwärtig wird das Sorgerecht zunehmend danach verteilt, ob die Elternteile für ihre Kinder emotional verfügbar sind. Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, ist wie ein Muskel; man kann sie trainieren. Dem Determinismus der Kindheit selbstermächtigend einen Entwurf des Erwachsenseins entgegenzustellen, kann zu einer Perspektive des Glücks und der Zufriedenheit werden. Jedoch bleibt die Kindheit stets die Fallhöhe des eigenen Lebens.